Von Sherry, Schinken und der Schönheit Andalusiens

Sehr gefasst, in sich ruhend schreitet Johann Lafer durch das Tor der Kathedrale von Sevilla. Diese Reise, diese erste Besichtigung, sie wird ihn zurück in seine Kindheit führen. Langsam passiert er den Eingang zur Giralda, einst Minarett und heute Glockenturm dieses größten gotischen Kirchenbaus Spaniens, läuft unter giganti­schen Spitzbögen entlang. Immer wieder macht er Fotos, von dem in 100­jähriger Arbeit entstandenen Hochaltar, von den gotischen, barocken, neoklassizistischen Glas­fenstern. Bis er andächtig vor dem Grab von Christoph Columbus innehält. „Wahnsinn, das ist Weltgeschichte“, sagt er. „Ich bin gläubiger Katholik, das berührt mich.“ Acht Jahre sei er als Kind Ministrant gewesen, in dem kleinen Ort St. Stefan im Rosental bei Graz, in dem er aufgewachsen ist. Tage vorher habe er sich auf den Gottesdienst gefreut, noch heute erinnert er seine Mut­ter, wie sie in Kopftuch und Kittelschürze gekleidet er­ schien – und wie es danach stets ins Gasthaus ging. „Das Traditionelle, die Kirche, der Sport, das war meine Welt“, sagt Johann Lafer.

An diesem Wochenende geht es für ihn in eine Welt voller Pracht, Produkte und Historie. Andalusien, die südlichste autonome Region Spaniens, größer als Österreich und von Phöniziern, Römern, Westgoten, Arabern und fünf Jahrhunderten christlicher Recon­quista geprägt, ist heute ein modernes Urlaubsland mit den meisten Sonnenstunden Europas, Produkten wie Reis, Sherry und Schinken sowie die bevölkerungs­reichste Gemeinschaft der iberischen Halbinsel. Die erste Nacht verbringt Lafer im Hotel Corral del Rey in Sevilla im Barrio Alfalfa, in einem kleinen Palast des 17. Jahrhunderts, den eine spanisch-englische Familie in ein elegantes Boutique­Hotel mit restaurierten Holzornamenten, römischen Säulen, Lichthof, Marmor­ und Kalksteinbädern und 17 individuell eingerichteten Zim­mern verwandelt hat. „Altstadtromantik pur“, sagt Lafer.

Für ihn ist es nicht der erste Andalusienbesuch. Vor rund 30 Jahren war er schon mal hier, im südlich der Pro­vinzhauptstadt gelegenen Sherry­ Dreieck Sanlúcar de Barrameda, El Puerto de Santa María und Jerez de la Frontera. „Ich habe Urlaub immer genutzt, um Top­ Pro­dukte vor Ort kennenzulernen“, sagt er. Nach der Kathe­drale ist er mit Claudia Dobler verabredet. Die Stadtfüh­rerin lebt seit 20 Jahren hier und zeigt wie keine Zweite deutschen Touristen die Schönheit Sevillas. Es geht an Kutschen und knatternden Zweitaktmotoren vorbei am Rathaus, am mittelalterlichen Königspalast Real Alcázar, durch die verwinkelten Gassen des Barrio Santa Cruz, bis hoch auf den Torre del Oro, den ehemaligen Militärturm am Ufer des Flusses Guadalquivir. Und dann, nach­ dem sie über die Brücke Puente de Isabell II nach Triana gegangen sind, dieses von Kunsthandwerk und Bistro­, Bar­ und Nachtleben geprägte Viertel im Westen, erblickt er die Markthalle. „Ah, der Bauch der Stadt“, sagt er und geht schnellen Schrittes hinein, von Stand zu Stand. „Da sind wir doch zuhause, oder?“, fragt Lafer und freut sich. Bei der Semillería kauft er Paprika und getrocknete Mango, weiter geht’s zur Panadería, Carnicería, Pesca­dería. Bei Los Bernales besorgt er lokales Olivenöl „One Finca la Torre“ und zeigt auf die von der Standdecke hän­genden Schinken. „Dürfen wir davon mal probieren?“ Israel Bernal greift zu Oliven, Brot und dem – wie er sagt – besten seiner Ibérico­ Schinken, Cinco Jotas. „Wahn­sinn, der Geschmack“, sagt Lafer, „ein unverwechselbar zarter Schmelz voller Aromen, einzigartig.“

Der Ort, aus dem dieser Pata ­Negra ­Schinken stammt, liegt eine Stunde westlich von Sevilla. Die besten klimatischen und geographischen Bedingungen sowohl für das Aufwachsen der indigenen schwarzen Ibérico­ Schweine auf Waldwiesen voller Kork­, Stein­ und Galleichen als auch für die Reifung und Trocknung ihres Fleisches finden sich genau hier, in der Region Huelva. Am Ortseingang von Aracena wartet er auf María Castro Bermúdez­ Coronel. Sie fährt voraus auf einen der Bauernhöfe, der zu ihren Zulieferern gehört. Drei Minuten dauert die Fahrt, dann geht es durch ein Holzgatter einen sandigen Weg hinauf. María Castro stoppt, springt aus ihrem Wagen und reicht Lafer noch vor dem Aussteigen Gummistiefel, die er bitte anziehen möge. Schweinepest, Schweinegrippe – mit Besuch aus dem Ausland ist man vorsichtig. Und noch während er sie sich anzieht, kommen sie schon, gut 25 Stück, schwar­ze, schlanke, kleine, sehr agile Schweine, die neugierig auf die Besucher zutrotten und sie für einen Moment umzingeln. „Super“, sagt Lafer, „die sind ja ziemlich entspannt.“ María Castro freut sich, das ist bei diesem 50 Hektar großen Gebiet durchaus Zufall – normaler­ weise müsse man sie erst einmal suchen. Aber so kann Lafer sie gleich inmitten der Dehesa, der beweideten Eichenhaine voll hoher Sträucher und Gräser betrach­ten, in denen sie sich nach der Begrüßung mit Rüssel am Boden voraus verteilt haben. „Wie elegant sie aussehen, als liefen sie auf Absätzen“, sagt Lafer und staunt.

Ibérico ­Schweine müssen laut Gesetz pro Kopf ein Hektar Land geboten bekommen. Bei den Bauern von Cinco Jotas bekommen sie zwei. Pro Tag legen sie bis zu 14 Kilometer auf der Suche nach Eicheln, Gräsern, wilden Beeren, Wurzeln, Kräutern und Pilzen zurück, das lässt ihr Fleisch muskulös und voller gesunder Fette werden. Und im Vergleich zum Hausschwein leben sie nicht nur knappe sechs Monate, sondern fast zwei Jahre, bevor sie geschlachtet werden. Die Schweine von Cinco Jotas gehören im Verkauf zur höchsten Kategorie, sie werden mit dem schwarzen Etikett versehen, welches für 100 Prozent Ibérico und Eichelfütterung – de bellota – steht. Rote, grüne und weiße Etiketten lassen hingegen Kreuzungen und künstliche Zufütterung zu. Rund 98 Euro kostet ein Kilogramm Cinco Jotas, sagt María Castro. „Wir sind ein kleiner Betrieb, aber innerhalb des Black Labels die größten.“

Wie groß, zeigt sie Johann Lafer gleich im Anschluss, in der 20 Minuten entfernten Produktionsstätte in Jabugo. 1879 hatte Juan Rafael Sánchez Romero den Grundstein für die Schinkenherstellung hier gelegt, beeindruckend groß sind die Hallen des weiß gekalkten Gebäudeensembles. Im Keller herrschen 14 bis 16 Grad Celsius, hier reift der Schinken für drei bis fünf Jahre von den Decken hängend, nachdem der „Perfilador“ nach der Schlachtung Fett in der richtigen Menge entfernt hat, um die Beine für die Trocknung vorzubereiten, und das Fleisch mit Atlantik-Meersalz eingesalzen wurde. „Schau dir die mal alle an, das gibt es doch nicht“, sagt Lafer, als er unter den Schinken hinweg Halle für Halle durchläuft. 300 Mitarbeiter zählt Cinco Jotas, 500 in der Schlachtsaison, in den Reifehallen arbeiten „Trocknungsmanager“ und „Meisterschnüffler“, die jedes Exemplar täglich kontrollieren. „Ich bin sprachlos“, sagt Lafer, der nach der Tour durch die Keller im Degustationsraum Platz nimmt. Er probiert, was „Maestro Cortador“ Seve Sánchez ihm vom Bein schneidet. „Allein schon der Duft, unfassbar, das ist der beste der Welt“, sagt Lafer. „Dieser Schinken, ein hausgemachtes Brot, Wein und ein paar gute Freunde zum Teilen, mehr braucht es nicht.“ Glücklich scheint er, in sich ruhend.

Doch es steht noch ein weiteres Highlight an: Sherry in Jerez de la Frontera. Am selben Abend geht es in den Süden Andalusiens, wo Lafer im Hotel Bodega Tío Pepe eincheckt. Dieses „erste Sherry-Hotel der Welt“ wurde im vergangenen Jahr von einem der größten Sherry Häuser Spaniens, González Byass, am Rande des Weinguts eröffnet. Das Haus bietet 27 große, modern-rustikal eingerichtete Zimmer mit Natursteinfliesen, Walk-in-Regenduschen und 24-Stunden-Service, dazu zwei Restaurants, eine Dachterrasse mit Pool, Bar und Traumblick auf die Stadt sowie ein opulentes Frühstück à la Carte.

Danach warten am nächsten Morgen Sylvain Vieille-Grosjean und Önologin Silvia Flores auf Lafer. Nach einer Einführung in 187 Jahre Firmengeschichte in der Real Bodega de la Concha, die 1862 für den Besuch von Königin Isabel II. von Spanien gebaut wurde und mit 206 beflaggten Fässern aller Abnahmeländer ausgestattet ist, heißt es ab in den Golfcaddy. Im rasanten Tempo geht es über das 37,5 Hektar große Produktionsgelände: von den Reben der Palomino-Traube, die 30 bis 100 Jahre alt sind und aus denen der Fino-Sherry „Tío Pepe“ – benannt nach dem Onkel des Gründers –, der Oloroso „Alfonso“, der Amontillado „Viña AB“ und der Palo Cortado „Leonor“ gewonnen werden, zur alten und neuen Destillerie und zum Los-Apostoles-Keller. Hier lagert das größte Fass des Guts, das Christus-Fass aus deutscher Eiche mit 16 500 Litern Sherry. „Outstanding“, sagt Johann Lafer, noch bevor es weiter in die Ahnengalerie geht – eine Halle mit Fässern, die von berühmten Besuchern wie Königin Isabel II., Winston Churchill, Steven Spielberg, Orson Welles und Königin Letizia signiert wurden. Auch Lafer soll sich heute hier verewigen. „Nee, das ist nicht euer Ernst“, sagt er und läuft vor Verlegenheit vor dem noch unbeschriebenen Fass einmal im Kreis, bevor er sich ans Werk macht. „No life without Sherry. Herzlichst Johann Lafer“, schreibt er auf die schwarze Oberfläche, dann geht er ein paar Schritte zurück und schaut noch immer recht ungläubig Richtung Gastgeber. „Was für eine Ehre“, sagt er, „danke!“

Die González-Byass-Bodega verdeutlicht wie kaum eine andere Historie und Herstellung dieses spanischen Weißweins mit geschützter Herkunftsbezeichnung, der nach dem maurischen Wort für Jerez benannt ist. Nach der Gärung wird er mit Branntwein versetzt, reift dann in zu vier Fünfteln gefüllten Fässern an der Luft und wird dabei in einer genauen Abfolge, genannt Solera-Verfahren, mit Weinen unterschiedlicher Jahrgänge verschnitten – vermählt, wie die Sherry-Winzer sagen. „Time to taste!“, findet Silvia Flores und führt Lafer in einen weiteren Keller. Hier taucht sie ihren „Venencia“, den traditionellen Schöpfdegen, in verschiedene Fässer und füllt mit gekonntem Schwung den Inhalt in Gläser. „Mmh, sehr frisch und klar, die Hefe erinnert mich an frisch gebackenes Brot“, sagt Lafer. Auch grünen Apfel, Mandel, Marzipan schmeckt er.

Die Kostprobe verlängert er im Anschluss im „La Carboná“. Das Restaurant der Familie Muñoz hat den Fokus auf das soeben erlebte Hauptprodukt der Region legt. Sohn Javier ist als „Sherry-Chef“ international bekannt und raspelt gleich zu Beginn getrocknete Hefe aus dem vierjährigen Fino-Sherry-Fass auf ein Tatar von Langostinos de Sanlúcar, einer regionale Garnelenart. Es wird serviert mit Roter Bete, weißer Knoblauchsauce, Rote-Beete-Chip, Rogen und Mais – und einem Glas Tío Pepe. Süß-salzig, saftig und knackig schmeckt das, ergänzt vom mandelig-hefigen Aroma des Fino-Sherry. Das 24 Stunden sous-vide gegarte Spanferkel kommt mit einer herrlich dichten, würzig-lieblichen Sauce von Oloroso auf den Tisch, den Wolfsbarsch hat Javier Muñoz auf Reben der Palomino-Traube gegrillt. „So die Kulturgeschichte des Landes kennenzulernen, ist doch das Beste“, sagt Johann Lafer.

Noch einen Spaziergang durch Jerez de la Frontera macht er, diese 3000 Jahre alte Stadt, die zu den ältesten Westeuropas zählt. Es geht vorbei am Stadttheater Villamarta, dem Rathaus, einem einstigen Kloster aus dem 16. Jahrhundert, auf den Plaza del Arenal, auf dem früher Stierkämpfe stattfanden, bis zur Kathedrale von Jerez. Der Glockenturm dieser auch „Kathedrale des Weins“ genannten Kirche ist im Mudéjarstil gebaut, mit Dekor und Formen der islamischen Architektur, die unter dem Einfluss christlicher Herrscher mit Merkmalen der Renaissance, Gotik und Romanik verbunden worden sind. Für einen Moment hält Lafer auch hier inne, bevor ihn der letzte Stopp auf seiner Reise in die Zukunft, zumindest in eine von ihm gewünschte führen wird. 

Die letzte Nacht verbringt er auf der Hacienda de San Rafael, einer ehemaligen Olivenfarm bei Jerez, die behutsam renoviert wurde, ohne den Charme des alten Landsitzes verloren zu haben. Nur elf Zimmer sowie sechs Casitas, Haus-Suiten, bietet sie, einen Oliven- und Mandelbaumhain, Pool, Paddel-Tennis sowie einen Platz für Petanque, dem spanischen Boule. Und einen unvergleichlichen Blick auf die Weite der andalusischen Felder. Fernseher gibt es nicht, nur die Hofhunde Zulo und Kiko, die Lafer begeistert begrüßen, und ein gemeinsames Wohnzimmer, in dem im alten Kamin unter antiken Hufeisen am Schornstein Feuer lodert und leinenbespannte Sofas zu gesellig-langen Abenden voller Anekdoten einladen. Zu diesen erscheint Hausherr Anthony Reid Mora-Figueroa auch schon mal persönlich, er lebt mit seiner Familie selbst hier. Und genau so fühlt es sich auch an: familiär, intim, ein Zuhause auf Zeit. „Diese Ruhe, diese Weite, der Geruch des Feuers erinnert mich an meine Jugend“, sagt Johann Lafer. Wie er seine Mutter beim Backen beobachtete, während er sich am Holzofen der Küche wärmt. „Das hier, das bin ich“, sagt er, nach dieser Reise voll Sherry, Schinken und Schönheit Andalusiens, „so sehe ich mich. Das ist ein Teil meiner Vergangenheit – und genau so stelle ich mir auch meine Zukunft vor.“

 

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aus dem Lafer Journal, Ausgabe 02/2022

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